Theater.Rebellion – die Thikwa-Geschichte
Gemeinsame Theaterarbeit von Künstler*innen mit und ohne Behinderung in einem professionellen Rahmen, Stücke, die keinen Märchenhintergrund haben, sondern sich ernsthaft mit einem Thema auseinandersetzen – all das ist heute (fast) eine Selbstverständlichkeit. Als 1990/91 „Im Stehen sitzt es sich besser – Kaspar Hauser Resonanz“ (Regie: Robin Telfer / Christine Vogt) im Studio des Maxim Gorki Theaters, Berlin, Premiere hatte, war das noch völliges Neuland. Die erste Produktion von Theater Thikwa löste ein enormes öffentliches Echo aus und befeuerte die damals aktuelle Diskussion über die „Kunstfähigkeit“ von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Gastspieleinladungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum folgten …
1990 beginnt die Geschichte von Thikwa mit der Gründung des Thikwa e.V. mit der Zielsetzung, die gemeinsame künstlerische Arbeit von Menschen mit Behinderung und nicht behinderten Künstler*innen zu fördern. Initiiert von Christine Vogt waren maßgebliche Gründungsmitglieder Hanna Näter, Gerlinde Altenmüller und Matthias Maedebach sowie Freunde und Mitarbeiter*innen des Werkheims Zehlendorf. 1991 erhielt Christine Vogt den Förderpreis der Karl Hofer Gesellschaft für die Initiative Thikwa.
Die ersten vier Inszenierungen bis 1993 entstanden als Freizeitprojekte. Fast alle behinderten Ensemblemitglieder arbeiteten hauptberuflich in traditionellen Behinderten-Werkstätten. Ein Umstand, der sowohl aus inhaltlichen Gründen, als auch wegen der Doppelbelastung mit Proben, Auftritten und Tourneen bald an seine Grenzen stieß. Deshalb begannen ab 1994 die Bemühungen um Professionalisierung. 1995 erfolgte die Gründung der Theaterwerkstatt Thikwa, die seitdem in Kooperation mit der Nordberliner Werkgemeinschaft (NBW gGmbH) betrieben wird, einer großen Berliner Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
Thikwa-Werkstatt für Theater und Kunst
1995 bis 1997 war die Theaterwerkstatt Thikwa ein temporärer Modellversuch. Finanziert vom Bundesministerium für Gesundheit, war dies das erste Pilotprojekt in Deutschland, das die Rehabilitation und Ausbildung geistig behinderter Menschen mit künstlerischen Ausdrucksweisen erprobte. In der Werkstatt wurde und wird ganztägig, 35 Stunden pro Woche, ausschließlich Kunst produziert und gelehrt. Damit grenzte sie sich von der damals üblichen Praxis ab, künstlerische Arbeit als begleitendes Angebot zum Ausgleich für überwiegend repetitive Tätigkeiten anzubieten.
Die Theaterwerkstatt Thikwa bot zunächst 12 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen an. Seit 1997 wurde sie als Kooperation zwischen der NBW und dem Theater Thikwa e.V. betrieben. Um die Gleichwertigkeit der künstlerischen Betätigungsfelder abzubilden, wurde sie 2010 in Thikwa-Werkstatt für Theater und Kunst umbenannt. Mit mittlerweile 42 Beschäftigten mit Behinderung ist die Thikwa-Werkstatt ein weit ausstrahlendes Kompetenzzentrum für diverse Kunst. Die Mitarbeiter*innen bilden das Ensemble von Theater Thikwa.
Die Wanderjahre
Die Professionalisierung durch das umfangreiche Ausbildungsangebot der Theaterwerkstatt und die damit einhergehende Erforschung der besonderen ästhetischen und inhaltlichen Möglichkeiten inklusiver Theaterarbeit, trugen sofort Früchte. Die erste Produktion unter den neuen Bedingungen „Ein anderer Teil des Waldes“ (Regie: Peter Baer) wurde 1996 zum Impulse-Festival eingeladen, dem wichtigsten Forum für Freies Theater in Deutschland.
Thikwa etablierte sich schnell als etwas anderer, aber allseits akzeptierter Mitspieler in der Berliner Kulturszene. Alle Produktionen der folgenden Jahren wurden, wie seit Anbeginn, in renommierten Spielstätten aufgeführt, dem Theater am Halleschen Ufer (heute HAU 2), den Sophiensaelen, dem Podewil, der Akademie der Künste. Inklusives Theater an etablierten Häusern war in den 1990ern noch ein Novum und Thikwa somit ein Vorreiter der Diversität.
Endlich im eigenen Theater
2005 bewilligte der Stiftungsrat der Deutschen Klassenlotterie Berlin den Antrag von English Theatre Berlin (ETB) und Thikwa e.V. zum Ausbau einer gemeinsamen, für Publikum und Künstler*innen barrierefreien Spielstätte. In den Mühlenhaupthöfen entstand bis 2008 die jetzige Spielstätte – als erstes komplett barrierefreies Theater Deutschlands. Thikwa führt hier jährlich zwischen 10 und 12 verschiedene Produktionen in 70 bis 90 Vorstellungen auf. Die gemeinsame Bewirtschaftung mit dem English Theatre unterstreicht unseren Anspruch auf Diversität in alle Richtungen.
Internationale Kooperationen und interkulturelle Projekte
Theater Thikwa ist seit vielen Jahren ein ganz besonderer Kulturbotschafter Deutschlands. Dies beweisen nicht nur die Auslandsgastspiele auf der ganzen Welt und internationale Workshops. Von 2002 bis 2004 initiierte Thikwa in Kooperation mit dem Goethe-Institut den Aufbau einer integrativen Theaterwerkstatt in Taschkent, Usbekistan. Das von Christine Vogt und Gerd Hartmann durchgeführte Projekt wurde 2004 mit dem Förderpreis für kulturelle Begegnungen der Stiftung West-östliche Begegnungen ausgezeichnet.
Eine langjährige Kooperation gibt es mit dem Theaterstudio Kroog II, Moskau. Aus dieser Kooperation entstand 2012 – mit einem rein russischen Ensemble – die Performance „Entfernte Nähe“ (Regie: Gerd Hartmann / Andrej Afonin). Erstmals in Russland stand ein inklusives Ensemble aus professionellen nichtbehinderten Schauspieler*innen und Tänzer*innen und behinderten Künstler*innen gemeinsam auf der Bühne eines staatlichen Theaters. Als „beste experimentelle Produktion des Jahres“ wurde das Stück 2014 mit der Goldenen Maske ausgezeichnet, dem wichtigsten russischen Theaterpreis. 2016 folgte die gemeinsame Produktion „BioFiction“, die in beiden Ländern aufgeführt wurde. 2021 fand eine gemeinsame Tour in vier Städte im Ural mit zwei Performances zum Thema „Porträt“ statt.
Weitere sehr lebendige Kontakte bestehen nach Japan. Bereits 2001 wurde dort eine Coproduktion mit der Taihen Performace Troupe für das Osaka Theatre Festival erarbeitet. Das vierteilige Work-in-Progress „Thikwa plus Junkan Project“ wurde zwischen 2009 und 2012 in Berlin und Japan erarbeitet und gezeigt und u.a. zum „Kyoto Experiment Festival 2012″ eingeladen.
Bis heute
Das Interesse an den besonderen Fähigkeiten, Denk- und Ausdrucksweisen der Thikwa-Performer*innen wird in den letzten Jahren immer größer. Dementsprechend gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Kooperationen mit anderen Gruppen z.B. Monster Truck („Dschingis Khan“, 2012, „Regie“, 2014, „Zugabe“ 2019). Thikwa-Performer*innen gastieren an großen Bühnen wie dem Deutschen Theater Berlin und werden von Regisseur*innen der Freien Szene zu deren Produktionen eingeladen. Mit dem Grips-Theater und dem Theater an der Parkaue verbindet uns eine regelmäßige und langfristige Zusammenarbeit.
Das „Berliner Bühnenwunder Thikwa“ (Der Tagesspiegel) hat seit seiner Gründung 1991 rund 140 Performances, Theater- und Tanzstücke in den verschiedensten Formaten erarbeitet. Und gastiert damit regelmäßig in Theatern und auf Festivals im deutschsprachigen Raum und der ganzen Welt.
2018 wurde Thikwa für die „herausragende Ensemble-Leistung eines Theaters im deutschsprachigen Raum“ mit dem renommierten Martin-Linzer-Theaterpreis der Fachzeitschrift Theater der Zeit ausgezeichnet, 2019 mit dem Theaterpreis des Bundes für „die in der Theaterszene herausragende Beschwörung von gesellschaftlicher Diversität bei gleichzeitiger Lust an künstlerischer Radikalität.“
Die künstlerische Leitung von Theater Thikwa teilten sich von 1993 bis 2003 Christine Vogt, Gerlinde Altenmüller und Matthias Maedebach. 2004 übernahm Gerline Altenmüller die alleinige künstlerische Leitung und hatte diese bis zu ihrem Tod im Mai 2012 inne. Nicole Hummel und Gerd Hartmann leiteten das Theater künstlerisch von 2012 bis 2023. Seit Juni 2023 teilen sich Nicole Hummel und Laura Besch die künstlerische Leitung.
Thikwa ist die Volksbühne des inklusiven Theaters. Experimentierwütig, provokativ, grenzsprengend, garantiert jedes Mal überraschend … verstörend gute Kunst … Aus diesem Theater geht man garantiert reicher raus, als man reingegangen ist.
Was 1991 als Nischenbühne begann, ist mittlerweile die fortschrittlichste Berliner Spielstätte für Menschen mit aller Art von Behinderung – nennt man das nun mit oder ohne.
Das Haus zeigt, wie gelebte Inklusion funktioniert – Thikwa steht für aufregendes Theater: Ob die Künstler behindert sind oder nicht, ist dabei vollkommen nachrangig.
In einem Hinterhof in der Fidicinstraße ist Thikwa zu Hause, eines der subversivsten, anarchischsten und progressivsten Theater Berlins … Die Ausweitung der Kunstzone, um die es in den Theaterdiskursen von heute geht, findet sich hier ebenso unprätentiös wie unverquast.
Würden alle handeln, wie das Theater Thikwa, wäre die Welt besser. Seit 1991 zeigt es, dass Inklusion keine Worthülse, sondern reale Praxis sein
kann.
Vordenker des Inklusionstheaters: Die Underdogs der Theaterszene haben sich durchgeboxt, und zwar bis nach oben. … Das Theater Thikwa gilt heute als eine der wichtigsten und relevantesten Gruppen, ein Theater, das den Diskurs bestimmt.